Post

Ein Tag im Jahr 2035

So stelle ich mir aktuell einen Tag im Jahr 2035 vor.

Ein Tag im Jahr 2035

Das Wort zum Mittwoch

Ich hatte mir für meinen kleinen Blog vorgenommen, immer mal wieder über den Tellerrand zu schauen. Hierfür habe ich mir eine neue Kategorie eingerichtet: „Das Wort zum Mittwoch“. Darunter sammele ich ab sofort alle Texte, die sich woanders nicht einsortieren wollen.

Der folgende Text ist als Satire gemeint. Wir leben in Zeiten, in denen Satire nicht mehr so viel darf wie früher. Die Zeiten tun nämlich dasselbe, was auch die Menschen machen: Sie ändern sich. Und damit verschiebt sich auch immer die Grenze des Schreib- und Sagbaren. Satire muss aber sein, auch wenn sie auf Widerstände stößt. Sie ist ein Korrektiv, das im Kleid des Unerhörten daherkommt.

Als ich damit anfing, mir einen Bot zu bauen, habe ich auch darüber nachdenken müssen, wo das Ganze hinführt. Die Entwicklungen rund um das Internet und auch innerhalb dessen, schreiten mit atemberaubender Geschwindigkeit voran. Daher ist es Zeit, mir einmal zu überlegen, wie die Welt wohl im Jahre 2035 aussehen wird. Spoiler: Es wird sich ein Hauch von Dystopie einschleichen. Unsere Zukunftsvisionen sind immer auch ein Abbild der aktuellen Erfahrungen.

Auf geht die Zeitreise.

1. Oktober 2035, 04:00 Uhr

Langsam wache ich auf. Mein Staubsauger hat sich leider bereits auf den Weg gemacht. Diesen hatte ich gestern erst eingerichtet, da der alte Suizid an der Treppe beging. Allerdings habe ich wohl vergessen, die richtige Zeitzone auszuwählen. Mein Staubsauger denkt, er befinde sich irgendwo zwischen dem Ural und Saudi-Arabien und begann sein Tagwerk. Das fixe ich, wenn ich Zeit habe.

Ich schaue auf mein Handy, um die neuen Benachrichtigungen zu checken. Die Nachrichten-App kommt gleich mit 45 Benachrichtigungen um die Ecke. Irgendwo in Asien wurde eine ehemalige TikTok Queen zur Präsidentin ernannt. Allerdings nur vom Militär. Die Benachrichtigungen dazu wurden passend ausgewählt: „Herzzerreißend! So tanzt ein TikTok Star in den Palast“ und „Du glaubst nicht, was diese neue Anführerin beim Amtsantritt trägt“. Durch eine Verordnung der EU muss ich 45 Sekunden warten, bis ich die einzelnen Benachrichtigungen wegwischen kann.

Zeit fürs Frühstück

07:00 Uhr: Frühstück

Ich frühstücke natürlich den neuesten Trend in den Social Media Netzwerken: Ein Haferflocken- Kürbiskernhybrid aus dem Biolabor mit Erdbeergeschmack. Dieses geniale Trendfood muss mit Grünkohlsaft vermengt werden, um optimal verdaut werden zu können. Da sich das geschmacklich beißt, wurde der Saft durch ein gesondertes „DNA Treatmend“ soweit angepasst, dass er glücklicherweise nach gar nichts mehr schmeckt. Aber wer schön und effektiv sein will, muss auch das optimale Frühstück verzehren.

Um mich von dieser „Geschmacksimplosion“ abzulenken, rufe ich den Internetbrowser auf. Ich muss mich aber erneut authentifizieren. Durch eine Verordnung der EU dürfen nur User ins Internet, die sich registriert und verifiziert haben. Allerdings startet die App nicht und stürzt direkt ab. Kein Problem, denke ich mir. Ich habe die App auch auf dem Kühlschrank installiert.

Der Kühlschrank hat in der Nacht allerdings ein Update gefahren. Ich tippe die Pop-ups alle weg um zu den Apps zu gelangen. Ich starte die „EeYou Auth“ App. Dank der Webcam im Kühlschrank kann ich sowohl die biometrische Authentifizierung abschließen, als auch den Personalausweis scannen. Die Kamera ist hochauflösend und hat eine Dokumentenscanner-Funktion. Das Internet ist für alle meine Geräte nun wieder für einen Monat frei geschaltet. Mein Kühlschrank erinnert mich auf dem Display und per Pushnachricht daran, dass ich mein Kohlehybridbudget bereits am Mittwoch überschritten habe. Ich warte 45 Sekunden, bis ich diese Nachricht im Nirwana verschwinden lassen kann.

08:00 Uhr: Der Weg zur Arbeit

Um zur Arbeit zu gelangen, würde ich gerne die U-Bahn nehmen. Allerdings weiß ich nicht, ob und wann sie kommt. Anscheinend haben Hacker Zugriff auf das Fahrgastinformationssystem bekommen. Auf den diversen Bildschirmen im Bahnhof laufen nun Filmchen mit „Erwachsenenunterhaltung“. Nachdem ich die Flexibilität der weiblichen Anatomie in Bezug auf Töpferware genügend bestaunt hatte, habe ich mich dazu entschieden, ein autonomes Taxi zu rufen.

Die App hat leider keinen Zugriff auf die Authentifizierungsplattform der EU. Ich bekomme aber nur eine kryptische Fehlermeldung „Err[00300ff]. No access to auth“. Um mich zu verifizieren, muss ich kurz mein Gesicht einscannen, den Personalausweis per NFC hinterlegen und schon kann es losgehen. Das Taxi ist in vier Minuten da. Ich freue mich sehr, dass es völlig leer ist. Die Fahrt in Richtung Arbeit geht los. Auf den Bildschirmen im Taxi läuft Werbung. Nach jedem Werbespot bekomme ich eine Pushnachricht auf mein Handy, mit der Option das Produkt zu kaufen. Nach 45 Sekunden wische ich die Benachrichtigung weg. Die Fahrt ist ereignislos. Nur mein Kühlschrank scheint Kummer zu haben. Dieser sendet mir eine Push-Nachricht: „Err Capacity -1“. Das fixe ich, wenn ich Zeit habe.

09:00 Uhr: Ankunft

Auf der Arbeit angekommen, werde ich vom Empfangs-Androiden persönlich begrüßt. Dieser hat die letzten beiden Wochen nur Chinesisch geredet, war aber immer freundlich. Durch ein Upgrade redet er nun Deutsch, wenn auch sehr schlecht, da die Übersetzung erst in Englisch und dann auf Deutsch erfolgt. Der Android weist mich enthusiastisch auf meinen Wohlverhalten-Score hin: „Du bist 884 Punkte! Machen weiter so.“ Mit diesem Score wird ermittelt, wie gut ich mich den anderen Menschen im Unternehmen gegenüber verhalte. Je inklusiver und freundlicher ich agiere, desto höher der Score. Je besser der Score, desto höher mein Bonus. Der Android pusht mir eine Nachricht auf mein Handy, mit meinem Score und einem Herz-Emoji. Nach 45 Sekunden wische ich die Nachricht weg.

09:15 Uhr: Das erste Meeting

Im Meetingraum angekommen sehe ich 4 Androiden und zwei Bildschirme mit Avataren. Da wir ein internationales Unternehmen sind, kommen die meisten Menschen nicht ins lokale Büro, sondern nehmen Remote teil. Die 4 Androiden hingegen sind keine Avatare, sondern fest angestellt. Das Meeting selbst ist belanglos. Interessant wird es erst, als besprochen wird, wie wir die Satelliten neu positionieren können, auf denen sich unsere Server befindenden. Durch neue Anpassungen im internationalen Recht kann jeder Staat den Luft- und Weltraum bis zu einer Höhe von 1.500 Kilometern über dem eigenen Territorium als Hoheitsgebiet beanspruchen. Da unserer Datenverarbeitung noch nicht zu 100 % konform mit der EU ist, müssen die Satelliten in der Übergangszeit über dem Atlantik geparkt werden. Das Meeting endet abrupt, da die Androiden aufladen müssen. Die Akkukapazität von 2 Stunden ist erschöpft. Das Meeting wird automatisch neu geplant und ich bekomme eine entsprechende Pushnachricht, die ich nach 45 Sekunden wegwische.

10:00 Uhr: An die Arbeit

Mein Kühlschrank sendet mir unablässig wirre Pushnachrichten. Irgendwas muss bei dem Firmware-Upgrade schiefgegangen sein. Ich brauche 14 Minuten, um alle Meldungen wegwischen zu können.

Ich beginne mit der Arbeit und lese alle Reports, welche die KI-Agenten über Nacht erstellt haben. Die wichtigsten Meldungen ziehe ich raus. Unsere Werbeoffensive auf Kinderspielzeugen performt nicht sehr gut. Die EU setzt uns da zu enge Grenzen. Anfangs haben wir durch „silent listening“ die Namen der Kinder abgegriffen, um die Werbenachrichten persönlicher zu gestalten. Das aber wurde kürzlich verboten. Die unpersönlichen Nachrichten lösen deutlich weniger Kaufimpulse aus. Unsere Geschäftsführung denkt jedoch darüber nach, das Verbot für eine Weile zu ignorieren. Die Strafzahlungen sind aktuell geringer als der Gewinn durch eine solche Aktion. Ich leite den Report weiter mit der Anmerkung: „Alle Indikatoren weisen darauf hin, dass sich das Ignorieren des Verbots lohnen könnte“. Die EU braucht ungefähr sechs Monate bis ein Jahr, um das Gesetz anzupassen. In der Zeit könnten wir viel Geld verdienen.

12:00 Uhr: Mittagessen

Ich setze mich in das Restaurant der Firma und bestelle mir eine Fusion Bowl aus Algen, Reis und Erbsenmuß. Je klimaneutraler mein Essen ist, desto mehr Punkte kann ich beim Wohlverhalten-Score bekommen. Ich schnibbel mir aber etwas Beef Jerky rein, das ich selbst mit gebracht habe.

Während ich esse, verbinde ich mich per SSH mit meinem Kühlschrank und wühle mich durch die Logs. Diese sind voll mit sinnlosen Fehlermeldungen. Das Firmwareupgrade ist gründlich schiefgegangen. Leider habe ich heute Morgen aus Versehen und beim Wegklicken der Pop-ups aus Versehen 99.999 Liter Milch bestellt, ein Fehler, der durch das Upgrade verursacht wurde. Der Onlineshop hat diese Bestellung storniert. Der Storno kam mit einer falschen Formatierung zurück und hat den Kühlschrank in eine Bootschleife geschickt, bis er im Failsafe Modus gestartet ist. Das fixe ich später.

Wenigstens kann er mir keine Pushnachrichten mehr senden.

Auf den Nachtisch verzichte ich heute, da ich Kohlenhydrate sparen muss. Wenn mein Kühlschrank wieder normal bootet, soll er stolz auf mich sein.

13:00 Uhr: Mitarbeitertraining und Arbeit

Im neuen Modul des Mitarbeitertrainings lernen wir den korrekten Umgang mit den Androiden. Diese sollen als natürliche Ergänzung der Belegschaft angesehen werden und haben alle individuelle Persönlichkeiten bekommen. Zudem wurden wir darauf hingewiesen, dass die Androiden alle menschlichen Interaktionen beobachten und bewerten sollen. Sie können den Wohlverhalten-Score bei Bedarf direkt anpassen. Beleidigungen und sexuell anzügliche Bemerkungen dürfen ab sofort nicht mehr im Umgang mit den Maschinen erfolgen.

Nach dem Training geht es zurück an die Arbeit. Ich sortiere und bewerte weiterhin die Arbeit der KI Agenten. Einige Agenten erzeugen viel Datenmüll. Diese laufen auf dem Server eines Satelliten der Firma. Ich verbinde mich mit dem Satelliten und schaue mir die Logs an. Anscheinend wurde er gehackt. Ich finde Prozesse für einen Krypto-Miner und anscheinend wird er auch als Webserver missbraucht. Auch diese Daten schaue ich mir genauer an und stelle fest, dass eine Dissidentengruppe aus einem Land im Nahen Osten Informationen austauscht. Es scheinen Journalisten zu sein. Ich bereinige das System, aber lasse den Webserver laufen. Die KI Agenten sollten nun wieder vernünftige Reports generieren können.

17:30 Uhr: Feierabend

Die Probleme in der U-Bahn wurden immer noch nicht behoben. Anscheinend wurde ein Wurm im Netzwerk platziert, sodass auch die U-Bahn Züge nicht mehr operieren können. Die Firma aus Asien kann das Problem aus der Ferne nicht beheben um muss Leute entsenden, um es zu beheben. Die Ansage lautet, dass der Betrieb bis voraussichtlich nächste Woche eingestellt ist.

Dadurch bekomme ich aber auch kein Taxi mehr und aus alle Sharing-Bikes sind ausgebucht. Glücklicherweise kann mich ein Kollege mitnehmen, der ein Auto besitzt. Diesen kleinen Malus im Wohlverhalten-Score gönnt er sich.

Zu Hause angekommen will ich mir eigentlich etwas zu Essen machen, muss mich aber erst einmal um den Kühlschrank kümmern. Ich flashe die Firmware neu und muss erst einmal den gesamten Inhalt einzeln neu einscannen. Danach passe ich die Zeitzone im Staubsauger an, damit dieser wieder zur Mittagszeit die Arbeit verrichtet.

Ich bekomme eine Pushnachricht von einem Onlineshop. Es ist der Shop, an dem mein kurzweilig verwirrter Kühlschrank eine sinnlose Bestellung gesendet hat. Ich habe eine schlechte Bewertung auf der EU-weiten „Customer Index Plattform“ bekommen, was zukünftige Bestellungen erschwert. Die Bestellung hat wohl einen Systemfehler ausgelöst. Ich stöhne entnervt. Darum kümmere ich mich ein anderes Mal.

19:00 Uhr: Filmabend

Für den Abend habe ich mir vor, einen Film generieren zu lassen. Die Filme der AIs dieser Welt sind inzwischen echt gut. Ich überlege lange, worum es in dem Film eigentlich gehen soll. Als ich eine gute Idee habe, beginne ich in das Mikrofon meiner Fernbedienung zu sprechen. In diesem Moment bekomme ich eine Pushnachricht meines Arbeitskollegen. Er sendet mir eine Sprachnachricht, die automatisch abgespielt wird: „Mitbekommen? In der U-Bahn läuft gerade ein richtig harter Porno. Das würde ich gerne mal mit den Androiden in der Firma machen. Haha. Wir sehen uns morgen.“ Die Generierung des Films wird aufgrund eines unangemessenen Prompts abgelehnt und mein Konto für 6 Monate gesperrt. Bei weiteren Verstößen werden die Behörden informiert.

Ich beginne ein Buch zu suchen. Irgendwo hier habe ich noch ein Buch.

This post is licensed under CC BY 4.0 by the author.